Dass die simple Situationsbeschreibung hier eine weitragendere Bedeutung hat, ist nicht zu übersehen.

Mir nach! Und lass die Leute redend stehen
Du sei ein starker Turm, dem seine Zinnen
Nicht beugen kann des Sturmwinds brausend Wehen.

Denn der wird nimmermehr das Ziel gewinnen,
Der von Gedanken sieht sich überschwommen
Die kraftauflösend durcheinanderrinnen

Das Miserere, das dann genannt wird, meint den 51 Psalm der Bibel.

Indes kam quer den Berghang hergegangen
Ein Haufen Volkes, höher als wir gingen
Die Vers für Vers das Miserere sangen.

Das Miserere selbst ist dann das ewig christliche Tralala von Sünde, Barmherzigkeit, Gnade etc. Es gibt wohl eine christliche Tradition, mit der sich sogar die Selbstmordattentäter religiöser Prägung jedwelcher Art anfreunden könnten. Auf jeden Fall singen die den Berg hinaufschwebenden Seelen dieses Miserere, damit Gott ihnen vergibt.

Bitte um Vergebung und Neuschaffung
1 [Für den Chormeister. Ein Psalm Davids,
2 als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem sich David mit Batseba vergangen hatte.]
3 Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, / tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen!
4 Wasch meine Schuld von mir ab / und mach mich rein von meiner Sünde!
5 Denn ich erkenne meine bösen Taten, / meine Sünde steht mir immer vor Augen.
6 Gegen dich allein habe ich gesündigt, / ich habe getan, was dir missfällt. So behältst du recht mit deinem Urteil, / rein stehst du da als Richter.
7 Denn ich bin in Schuld geboren; / in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.
8 Lauterer Sinn im Verborgenen gefällt dir, / im Geheimen lehrst du mich Weisheit.
9 Entsündige mich mit Ysop, dann werde ich rein; / wasche mich, dann werde ich weißer als Schnee.
10 Sättige mich mit Entzücken und Freude! / Jubeln sollen die Glieder, die du zerschlagen hast.
11 Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden, / tilge all meine Frevel!
12 Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz / und gib mir einen neuen, beständigen Geist!
13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht / und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!
14 Mach mich wieder froh mit deinem Heil / mit einem willigen Geist rüste mich aus!
15 Dann lehre ich Abtrünnige deine Wege / und die Sünder kehren um zu dir.
16 Befrei mich von Blutschuld, Herr, du Gott meines Heiles, / dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit.
17 Herr, öffne mir die Lippen / und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden.
18 Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie dir geben; / an Brandopfern hast du kein Gefallen.
19 Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, / ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.
20 In deiner Huld tu Gutes an Zion; / bau die Mauern Jerusalems wieder auf!
21 Dann hast du Freude an rechten Opfern, / an Brandopfern und Ganzopfern, / dann opfert man Stiere auf deinem Altar.

Der erste, der Dante bittet, etwas für sein Heil zu tun (den Leuten aus Fano aufzutragen, dass sie für ihn beten) ist Jacopo del Cassero.

So schenke mir Gewährung für diese Bitte:
Fano soll fromm für mich die Hände falten
Dass ich Läutrung schwerer Schuld erstritte

Jacopo del Cassero stammt aus Fano (Fano ist ein kleine Küstenstadt an der oberen Adria in der Provinz Pesaro, heute 62000 Einwohner). Jacopo del Cassero wurde 1260 in Fano geboren und wurde 1298 ermordert. Er nahm, wie Dante auch, auf guelfischer Seite an der Schlacht von Campaldino teil (11.Juni 1289), bei der die florentinischen Guelfen, Dante gehörte zu diesem Zeitpunkt noch der Partei der schwarzen Guelfen an, über die Ghibellinen triumphierten und zwar mit einer für damalige Verhältnisse enormen Anzahl an Toten, 1700 auf ghibellinischer Seite, 300 auf guelfischer Seite und zahlreichen Gefangenen, die dann in florentinischer Gefangenschaft starben. Während seiner Zeit als Podestá (Neudeutsch Regierungschef einer Stadt) von Bologna, verteidigte er diese Stadt gegen Azzo VIII von Ferrara. 1298 wird er zum Podestá von Milano gewählt. Um dieses Amt anzutreten, musste er aber erstmal nach Milano kommen, was nicht so einfach war, weil das von Azzo beherrschte Ferrara dazwischen lag. Beim Versuch auf dem Seeweg Venedig zu erreichen und von dort auf dem Landweg weiter nach Milano zu reisen, wurde er von den Schergen Azzos abgefangen und ermordert.

Dort stamm ich her – die tiefe Wundenspalten
Jedoch, draus meines Lebens Strom verblutet
Hab ich in Antenorens Schoß erhalten

Also, er stammt aus Fano, gestorben ist er jedoch in Atennores Schoß. Dante bezieht sich hier auf eine Gestalt aus der Illias von Homer. Antenor vermittelte oft zwischen Griechen und Trojanern und brachte auch einen Waffenstillstand zustande. Diese Aufgeschlossenheit den Griechen gegenüber wurde ihm dann irgendwann als Verrat ausgelegt. Wie dem auch immer sei, die Griechen verschonten ihn, als sie Troja einnahmen. Nach einer weiteren Sage verließ er Troja, ähnlich wie Aeneas, und gründete Padua. Daher die Bezeichnung Antenorens Schoß. Er wurde also in Padua ermordert, als er auf dem Weg nach Venedig war.

Wo ich Verrat am wenigsten vermutet
Den der von Este wider mich gesponnen
Sein Hass hat mehr als billig sich gesputet

Este ist lediglich der Name der Familie, der Azzo VIII angehört, vollständig heißt er Azzo VIII d' Este.

Ein anderer sprach:“Soll je sich dein Verlangen
Erfüllen, das zum Berg dich hergelenkt
Dein Mitleid kürze dann auch mir das Bangen

Der zweite, der ihn anspricht, ist Buonconte da Montefeltro. Buonconte da Montefeltro (geb. 1250, gestorben 1289) nahm ebenfalls an der Schlacht bei Campaldino teil, wo er den Tod fand, aber allerdings auf der Seite der Ghibellinen. Er ist der Sohn des Guido da Montelfetro, der uns bereits in der Hölle unter den Verrätern begegnet ist.

Giovanna nicht und niemand sonst gedenkt
Buonconts von Montefeltro – trauernd klagen
Muss ich deshalb, die Stirn in Leid gesenkt

Giovanna ist seine Frau, die nach seinem Tode seiner offensichtlich nicht mehr gedachte.

„Welch Zufall“, rief ich aus, „hat dich verschlagen
Welche Gewalt so weit vom Campadin
Dass heut noch keiner weiß dein Grab zu sagen

Bekannt war zwar, dass Buonconte da Montefeltro bei der Schlacht von Campaldino starb, doch war sein Leichnam nie gefunden worden. Er klärt jetzt also Dante über die Umstände seines Todes auf, was natürlich die Frage aufwirft, woher der Dichter auf einmal über die Umstände dieses Todes informiert war.

Nacht ward‘ s um mich – doch eh mein Blick gebrochen
Rief ich die Jungfrau an – dann fiel ich nieder-
Und meine Hülle blieb dort ungerochen

Das ist sehr frei übersetzt, das Orginal lautet so.

Quivi perdei la vista e la parola
nel nome di Maria fini', e quivi
caddi, e rimase la mia carne sola.

Bevor ich noch den Blick und das Wort verlor,
bevor ich fiel, Im Namen Marias endete ich,
und allein mein Fleisch blieb allein

Er hat sich also noch kurz vor seinem Tode an Maria gewandt, also seiner Sünden gedacht. Das reicht dann, damit er von einem Engel hinweggehoben und den Fängen des Teufels entwunden wird.

Das ist die Wahrheit, sag der Welt es wieder!
Schon trug ein Engel mich – doch blitzeschnelle
Fuhr Satan her und schrie: „Weil ihm die Lider

Ein Tränlein netzt, willst du zur Himmelszelle
Beraubend mich, sein ewig Teil erheben?
So büße denn der Leib an dessen Stelle

Der Körper allerdings landet beim Teufel. Aus welcher theologischen Quelle Dante hier schöpft, ist unklar, denn nach christlicher Tradition und auch nach allgemeinem Verständnis ist es eigentlich Jacke wie Hose, wem der Körper gehört, denn der ist ja nach dem Tod eben tot. Wie dem auch immer sei, die nächsten Verse erklären, was mit dem Leichnam passiert ist. Der Teufel ließ eine gewaltige Wolke aufziehen, die sich dann über dem Land entlud, die Bäche und Flüsse anschwellen ließ und den Leichnam mitriss.

Die dritte Seele, die mein Hiersein freute
Bat mich: „Wenn du zur Welt erst heimgekommen
Und rast und Mühsal dir Erquickung streute

So lass dein Mitleid auch der Pia frommen
Der Siena Leben gab, Maremma Tod
Wie jener weiß, der mich zum Weib genommen

Es handelt sich um Pia Tolomei, die einer Adelsfamilie aus Siena entstammte und mit Paganelle de Pannocchieschie verheiratet war. Dieser war ein Anführer der Guelfen in der Toskana und besaß ein Schloss in der Maremma, das ist die Sumpflandschaft, die wir schon in der Hölle kennengelernt hatten. Vermutlich ließ er seine Frau umbringen, weil er eine Nachbarin heiraten wollte. Die genauen Umstände des Todes sind allerdings nicht bekannt. Ein Gerücht besagt, dass ein Diener sie aus dem Fenster gestürzt hätte, ein anderes, dass sie auf dem Schloss bei Maremma gefangen gehalten wurde, bis sie starb.